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Afrozensus 2020. Über Repräsentation hinaus

 
5. Januar 2022
  • 11. KupoBuko

In Deutschland leben über eine Million Menschen afrikanischer Herkunft. Anfang Dezember 2021 stellten die Organisationen Each One Teach One (EOTO) und Citizens for Europe die Ergebnisse des „Afrozensus 2020“ vor, einer ersten großen Online-Befragung zu den Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland. Für den Afrozensus befragte EOTO rund 6.000 Menschen mit einem umfangreichen Fragebogen und in Fokusgruppen- und Expert*innengesprächen. Dabei wurde auch nach dem Vertrauen in Politik, Verwaltung und Organisationen gefragt und es wurden Forderungen an die Politik zusammengetragen.

Der Afrozensus Report gibt Auskunft darüber, wie die Befragten ihr Leben in Deutschland einschätzen und welche Erwartungen sie an die Gesellschaft und die Politik haben. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie verbreitet Diskriminierungen und struktureller Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen in Deutschland sind. In diesem Beitrag greifen wir einige Ergebnisse und Forderungen heraus, die für Kultureinrichtungen und die Kulturpolitik besonders interessant sind.

Diskriminierungserfahrungen in der Öffentlichkeit und Freizeit, in Kunst und Kultur

In der Umfrage geht es zum Beispiel um Diskriminierungserfahrungen in allen Lebensbereichen, so auch in Kunst und Kultur. 97,3 Prozent aller Befragten haben in den vergangenen zwei Jahren Anti-Schwarzen Rassismus im Alltag erlebt: Am häufigsten in „Öffentlichkeit und Freizeit“ (93,2 Prozent), in „Medien und Internet“ (85,5 Prozent), „Geschäften und Dienstleistungen“ (85,1 Prozent) und im „Arbeitsleben“ (84,7 %). 

»Beim Zugang zum „Kunst- und Kulturbereich” – z. B. beim Besuch von Theater oder Museum – gibt mehr als jede zweite Person (54,2 %) mit Kontakt zu diesem Lebensbereich an, in den letzten 24 Monaten hierbei Diskriminierung erlebt zu haben.«
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Afrozensus

Das ist zwar weniger als in anderen Lebensbereichen, dennoch eine erschütternd hohe Zahl. Sowohl im Lebensbereich „Öffentlichkeit und Freizeit” als auch im Bereich „Kunst und Kultur” führen die Befragten Diskriminierungen auf die gleichen sieben häufigsten „Merkmale“ zurück: „rassistische Gründe/‚ethnische Herkunft’”, „Hautfarbe”, „Geschlecht”, „Haare/Bart”, „Sprache”, „Name” und „sozialer Status/soziale Herkunft”. Die Rangfolge der Merkmale variiert je nach Lebensbereich. So wird in „Öffentlichkeit und Freizeit” das „Geschlecht” (34,2 %) als dritthäufigstes Merkmal genannt, während bei „Kunst und Kultur” das Merkmal „Haare/Bart” (20,4 %) auf Platz drei hinter „Hautfarbe” und „rassistische Gründe/‚ethnische Herkunft’” rangiert.

Im Kunst- und Kulturbereich berichten die Befragten prinzipiell weniger von Diskriminierung als in „Öffentlichkeit und Freizeit” allgemein. Es gibt jedoch Unterschiede zum Beispiel zwischen Befragten mit Beeinträchtigung und ohne Beeinträchtigung, was laut den Verfasser*innen „vermutlich mit der fehlenden Barrierefreiheit in vielen Kulturstätten und -programmen (z. B. fehlender Zugang für Rollstuhlfahrer*innen, keine Gewährleistung von Übersetzungen in Gebärdensprache) zusammenhängen könnte.“

Es fällt außerdem auf, dass Befragte mit hoher Bildung häufiger angeben, im Kunst- und Kulturbereich diskriminiert zu werden als Menschen mit niedriger Bildung. Dabei bleibt offen, ob sich das Diskriminierungspotenzial je nach Art der besuchten Kunst- und Kulturinstitution unterscheidet.

Schwarze/Afrodeutsche/Persons of Colour in Deutschland sind sehr divers

Ein Ergebnis des Afrozensus ist, dass die Befragten sehr divers sind. Sie wurden in 144 Ländern geboren, die meisten in Deutschland, gefolgt von den USA, Nigeria, Ghana, Kenia, Eritrea, Äthiopien, Kamerun und Brasilien. Die meisten Befragten sind zwischen 20 und 39 Jahre alt. Dies spiegelt die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes wider, die zeigen, dass Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland insgesamt sehr jung sind.

Die Befragten unterscheiden sich auch in ihren Selbstbezeichnungen. Die meisten Afrozensus-Befragten benennen sich unter anderem als „Schwarz” (74,9 %). Viele verwenden verschiedene Bezeichnungen, um sich selbst zu positionieren. Die am häufigsten genannte Kombination von Selbstbezeichnungen ist „Schwarz”, „Afrodeutsch” und „Person of Colour”.

Besonders von Diskriminierung betroffen sind trans*, inter* und nicht-binäre Menschen, Personen mit Beeinträchtigung und/oder Behinderung sowie Schwarze Menschen mit zwei afrikanischen oder afrodiasporischen Elternteilen. Viele Menschen machen Erfahrungen mit sich überschneidenden Formen von Diskriminierung, man spricht dabei auch von Intersektionalität und Multidimensionalität. Mit der Afrozensus-Befragung werden diese Formen der Mehrfachdiskriminierung erstmals umfangreich quantitativ und qualitativ erfasst.

Forderungen an Politik und Gesellschaft

Im Afrozensus-Bericht werden Forderungen und Handlungsempfehlungen zusammengetragen, um Anti-Schwarzen Rassismus zu bekämpfen und Schwarze Communities zu stärken. Diese Forderungen und Empfehlungen beruhen auf der Erkenntnis, dass Anti-Schwarzer Rassismus spezifisch wirkt. Solche Maßnahmen wären zum Beispiel Aktionspläne der Regierung zur Bekämpfung von Anti-Schwarzem Rassismus und zum Empowerment Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen, flächendeckende Beratungsstellen für Betroffene von Anti-Schwarzem Rassismus sowie Universitäts-Departments zu Black Studies. Im Bericht wird außerdem gefordert, Empowerment als strategisches Ziel im geplanten Demokratiefördergesetz zu berücksichtigen. Dabei sollen Schwarze Menschen spezifisch adressiert und eine langfristige Förderung sichergestellt werden.  Eine weitere Empfehlung ist die Institutionalisierung einer „Empowerment-Infrastruktur, u. a. in Form von Communities-Zentren“.

»Um Anti-Schwarzen Rassismus zumindest im Ansatz zurückzudrängen, ist deshalb ein politischer Fokus auf das Empowerment Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen notwendig.«
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Die Fokussierung auf Anti-Schwarzen Rassismus und die Institutionalisierung von Empowerment sollten laut Afrozensus in eine starke Antidiskriminierungslandschaft und -gesetzgebung eingebettet sein. Die Autor*innen bescheinigen politischen und gesellschaftlichen Akteur*innen einen fehlenden professionellen Umgang mit Anti-Schwarzem Rassismus und bemängeln, dass in der öffentlichen Debatte „oft lediglich die unzureichende Repräsentation Schwarzer Menschen thematisiert“ werde. Repräsentationspolitik sei jedoch keine Garantie für „professionelle und hinreichend in kollektive Erfahrungen eingebettete rassismuskritische Kompetenzen und Prioritäten“. Sie bleibt symbolisch, wenn sie sich nicht auf Handlungsempfehlungen von Betroffenen verpflichtet.

Die Autor*innen sehen öffentliche Institutionen in der Verantwortung, „sich in den Prozess einer rassismuskritischen Professionalisierung zu begeben. Dies umfasst auch, aber nicht nur, Schulungen für gegenwärtige Mitarbeiter*innen.“ Außerdem müsse der Nachwuchs in vielen Bereichen gefördert werden, zum Beispiel mittels eines Begabtenförderwerks für Schwarze.

Auch mit der deutschen Erinnerungspolitik setzt sich der Afrozensus Report auseinander und fordert, die Prägekraft des Anti-Schwarzen Rassismus in der Deutschen Geschichte anzuerkennen und angemessene Restitutionen und Reparationen zu leisten. Diese sollten direkt mit den Vertreter*innen der Herkunftsgesellschaften und Nachfahren der von deutschem Genozid und Kolonialgewalt betroffenen Gemeinschaften erfolgen. Auch Schwarze Opfer des Nationalsozialismus sollten anerkannt und entschädigt werden. Eine auf Diversitätsentwicklung verpflichtete Kulturpolitik kann hier den Anfang machen.

Über Afrozensus 2020

Aikins, Muna AnNisa; Bremberger, Teresa; Aikins, Joshua Kwesi; Gyamerah, Daniel; Yıldırım-Caliman, Deniz (2021): Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, af­rikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutsch­land, Berlin. Online verfügbar unter: www.afrozensus.de  

Der „Afrozensus“ wurde gemeinsam von Each One Teach One (EOTO) e.V. und Citizens For Europe (CFE) umgesetzt und von der Alice-Salomon Hochschule und dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung wissenschaftlich begleitet. Die Erhebung und der Bericht wurden durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes finanziert. Die Homepage wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen von „Demokratie leben!“ finanziert.