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Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen. Kontroverse Reaktionen

Nachtrag zum Beitrag vom 14. Januar 2022
 
19. Januar 2022
  • 11. KupoBuko

Das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus (BGA) veröffentlichte auf seinem Blog Vorwürfe gegen die documenta fifteen und ihre künstlerische Leitung, das indonesische Kurator*innen Kollektiv ruangrupa, sie kooperiere mit Menschen und Bündnissen, die sich antiisraelisch und antisemitisch positionierten. Es seien Akteure und Organisationen eingebunden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten und Kassel drohe zum Ort propalästinensischer und antisemitischer Agitation zu werden.

Diese Vorwürfe wurden nach einem Bericht der Wochenzeitung DIE ZEIT von zahlreichen überregionalen Medien aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Dabei spielten Fragen der Kunst- und Meinungsfreiheit ebenso eine Rolle wie die Diskussion um den Umgang mit Befürworter*innen der Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS), die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will – und der der Deutsche Bundestag 2019 in einer Erklärung entschieden entgegentrat. Mehrere Expert*innen und Journalist*innen halten die Vorwürfe des Kasseler Bündnisses BGA gegen die Leitung der documenta für polemisch und übertrieben, zudem stehen gegenüber dem Bündnis wiederum Vorwürfe im Raum, der Blogeintrag habe einen „deutlich anti-islamischen Grundton“, arbeite mit degradierendem Vokabular und rassistischen Stereotypen. Andere finden zumindest einige Aspekte der Kritik jedoch diskussionswürdig.

Im Fokus der Kritik: The Question of Funding

Konkret geht es dem Bündnis gegen Antisemitismus in seiner Kritik im Besonderen um die Benennung des palästinensischen Kollektivs The Question of Funding als Lumbung Member – also eines von 14 Kollektiven, die das Konzept der documenta fifteen mitgestalten sollen.

The Question of Funding (dt. „Die Frage der Förderung“) hat Verbindungen zum Khalil al Sakakini Cultural Center (KSCC). Die Kunst- und Kulturorganisation ist in Ramallah, Birzeit, Gaza-Stadt und Bethlehem aktiv und veranstaltet Ausstellungen, Festivals, Konzerte, Filmscreenings und Lesungen. Der Namensgeber dieser Organisation, Khalil al Sakakini (1878-1953), ein arabisch-christlicher Pädagoge, sei ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen und habe ab 1936 den Aufstand in Palästina mit Terroranschlägen auf Zionisten befürwortet, so das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus. Yazan Khalili, der Question of Funding im Dezember in der Reihe „Lumbung Konteks“ der documenta vertrat, war laut Bündnis gegen Antisemitismus ebenso KSCC-Direktor wie Lara Khaldi, die zum „Artistic Team“, dem Leitungsteam der d15 um ruangrupa, gehört.

Distanzierung der documenta und der Stadt Kassel

Die documenta fifteen und ruangrupa treten den Vorwürfen entschieden entgegen. In einem Statement heißt es „Die documenta fifteen unterstützt in keiner Weise Antisemitismus. Sie vertritt die Forderung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft und unterstützt das Anliegen, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus sowie jeder Art von Diskriminierung entschieden entgegenzutreten.“ Man werde sich intensiv mit der Kritik auseinandersetzen.

Der Oberbürgermeister der Stadt Kassel Christian Geselle, der gleichzeitig Vorsitzender des Aufsichtsrates der documenta gGmbH ist, wies die Vorwürfe des BGA ebenfalls zurück und betonte in einem Pressestatement die Bedeutung der Freiheit der Kunst, die „die wichtigste Voraussetzung für die Existenz und weltweite Bedeutung der documenta“ sei. Die Freiheit der Kunst zu wahren und zu verteidigen sei daher Aufgabe aller, die an Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung glauben. Eine Überprüfung oder gar einen Eingriff in die künstlerische Freiheit dürfe es nicht geben; wenn überhaupt nur bei Überschreitung der oben (im Statement der documenta) beschriebenen roten Linien. „Die hat es hier aus meiner Sicht bislang nicht gegeben, was auch von renommierten Dritten in dieser nicht sachlich vom Zaun gebrochenen und aufgeheizten Debatte geteilt wird“, so Geselle. Er betont, dass Deutschland aus seiner Vergangenheit heraus eine herausragende Verantwortung für Menschen jüdischen Glaubens und den Staat Israel habe. Das sei Staatsräson und ebenso „Stadträson“ für die Stadt Kassel.

Die kulturpolitischen Diskussionen rund um BDS, Antisemitismus und die Meinungs- und Kunstfreiheit wurden durch die Veröffentlichungen erneut befeuert und dürften noch eine Weile andauern. Die Online-Diskussionsreihen der documenta fifteen werden möglicherweise zusätzliche Aufmerksamkeit erhalten. Zu hoffen ist, dass der kulturpolitische Diskurs rund um die documenta fifteen sich nicht allein auf dieses Themenfeld verengt – und dass spätestens im Sommer die künstlerische Praxis bei der Ausstellung in Kassel (18. Juni – 25. September) das Blickfeld wird erweitern können.

Quellen und Medienberichte

Blog des Bündnis gegen Antisemitismus Kassel

DIE ZEIT vom 12.1.2022: Verschweigen, das geht nicht mehr

Monopol. Magazin für Kunst und Leben vom 13.1.2022: Antisemitismus-Polemik gegen die Documenta geht nach hinten los

3sat Kulturzeit vom 13.1.2022: Antisemitismusvorwürfe gegenüber documenta 15

Deutschlandfunk Kultur vom 13.1.2022: Hat die documenta ein Antisemitismusproblem?

Hessische Allgemeine vom 14.1.2022: Antisemitismus bei der documenta? Kasseler Bündnis erhebt Vorwürfe gegen Künstlerische Leitung und vom 16.1.2022: Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta: Oberbürgermeister Geselle bezieht Stellung

Taz vom 14.1.2022: Kunstfreiheit und Antisemitismus

Süddeutsche vom 18.1.2022: Kunst und Weltanschauung

Frankfurter Rundschau vom 31.1.2022: Documenta-Debatte: Deutschland führt falsche Kämpfe gegen Antisemitismus