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Die Kunst der Demokratie.

 
16. August 2022
  • 11. KupoBuko

»It’s coming from the feel that it ain’t exactly real / or it’s real but it ain’t exactly there« sang Leonard Cohen in seinem Song Democracy, erschienen 1992 und damit ausgerechnet zu jener Zeit, in der die Demokratie zumindest im Rückblick im Grunde »exactly there« war. Heute, 30 Jahre später, scheinen uns diese Zeilen kräftiger zu schütteln. So ist von multiplen Krisen der Demokratie die Rede, die im Kern vor allem eins sind: Krisen der öffentlichen Kommunikation und ihrer kulturellen Voraussetzungen. Sowohl die zwischenmenschliche als auch die politische Verständigung stehen auf dem Prüfstand.

Erodiert die Gesellschaft?

In einer offenen Gesellschaft geht es nicht nur darum, kulturelle Verschiedenheit als Bereicherung anzuerkennen, sondern gemeinhin um die Freiheit des Einzelnen und damit die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Radius dieser individuellen Autonomie wird fortwährend gesellschaftlich geweitet. Diese Idee der Freiheit aber findet nicht allgemeine Zustimmung, Freiheit hat schließlich immer auch mit Unsicherheit zu tun. Gerade im Digitalen bilden sich bisweilen kleine Grüppchen mit relativ festgefügten Überzeugungen, die einer Gesellschaft der Vielfalt entgegenstehen. Soziale Medien funktionieren dabei nach Extremen, nach dem Einfachen, um Ungewissheit und Nichtwissen so schnell wie möglich ausweichen zu können. Der Unterschied zwischen Glauben und Wissen, zwischen Tatsachenbehauptung und Meinung verschwimmt. Das Verständnis gegenüber Andersdenkenden sinkt. Vielmehr wird die Frage »Wie kann man nur so denken?« immer häufiger gestellt und dabei emotional aufgeladen. Vergessen wird dabei, dass diese Frage, sachlich und aufrichtig gestellt, im Grunde der Antrieb einer offenen Gesellschaft ist. Denn es gehört doch zu unserem Anspruch, anderen unvoreingenommen zu begegnen. Fragen offen zu stellen, ist aber durchaus auch anstrengend und erfordert manchmal Zeit, weil zum einen Irrtümer erst einmal aus dem Weg geräumt werden müssen und zum anderen die Gesprächspartner bereit sein müssen, auch die eigene Haltung zu hinterfragen. Und oftmals fehlt die Bereitschaft, sich diese Zeit zu nehmen. So vereinzelt sich unsere Gesellschaft immer mehr. Während auf der einen Seite das Selbstvertrauen zunimmt, schwindet auf der anderen Seite das Vertrauen in andere. Die Verhältnisse werden beinahe religiös: Eindeutigkeit wird in einer Welt der multiplen Krisen zum Götzen, streitbar im Sinne der Ambivalenz zu sprechen, zu Gotteslästerung. So trägt der Anspruch der Unvoreingenommenheit vermehrt utopistische Züge. Wir brauchen dringend andere, künstlerische Strategien der Sinnsuche.

Erodiert die Politik?

Die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Umfrage der Bertelsmann Stiftung bieten Anlass zur Sorge: Während im Sommer 2020, also nach ein paar Monaten Corona-Pandemie, noch 61 Prozent der Befragten mit der Demokratie zufrieden waren, waren es im Februar 2022 nur noch 42 Prozent und damit weniger als die Hälfte der Bundes-Bevölkerung. Das Vertrauen in die Bundesregierung lag im Sommer 2020 noch bei 45 Prozent, im Februar 2022, wenige Monate nach den Neuwahlen und kurz vor dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, jedoch nur noch bei 18 Prozent. Diese Ergebnisse sind verheerend. Wenn über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Regierung nicht mehr vertrauen, gräbt dies tiefe Furchen in die Stabilität der Demokratie. Ist unsere Gesellschaft zu different geworden, dass sie nicht mehr repräsentierbar ist, wie der Philosoph Andreas Urs Sommer in seinem Buch »Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert« schreibt? Diese Frage ist wichtig und die Antwort liegt nicht in einem Ja oder Nein und damit weder darin, die repräsentative Demokratie abzuschaffen noch weiter zu machen wie bisher. Stattdessen sind wir gesellschaftlich herausgefordert, uns intellektuell und konzeptionell mit der wachsenden Unwucht zwischen Individualität und Gemeinwohl zu beschäftigen. Zum anderen müssen wir wieder einmal klären, was Demokratie eigentlich bedeutet.

»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine«, soll der Altkanzler Helmut Schmidt gesagt haben. Sie wird durch Streit nicht schlechter, sondern besser. 2019 zeigte das ganz lebensnah auch ein Forscherteam der Universitäten North Carolina, Harvard und Chicago. Untersucht wurde die Qualität von Wikipedia-Einträgen. Herausgefunden wurde, dass gerade bei jenen Gruppen, in denen die Editoren alle der gleichen Meinung waren und insofern große Homogenität herrschte, weniger substanzielle Beiträge herauskamen als bei jenen Gruppen, die verschiedene, gar konträre Meinungen vertraten. Politisch und gesellschaftlich leuchtet das allemal ein. Wir lernen immer mehr, wenn wir unterschiedliche Positionen anhören. Lernen wiederum ist ein Prozess. Demokratische Entscheidungsprozesse brauchen Zeit für notwendige Abwägungen – das gilt auch in Krisenzeiten, die ein effektives Handeln erfordern. Es gehört zum Paradox einer Krise, dass schnelle Entscheidungen erforderlich sind, diese aber zugleich wohlüberlegt sein müssen. Es geht gerade in einer Krise um Klarheit, die gerade in ungewissen Situationen jedoch immer nur bedingt möglich ist. Diesem Dilemma kann kein Entscheidungsträger entkommen, aber natürlich ist es möglich, sich um Aufrichtigkeit zu bemühen und offenzulegen, was man beabsichtigt und wo man noch unsicher ist. Auch das schafft Vertrauen und macht auch Pfadänderungen nachvollziehbar. In der Corona-Pandemie war dies nicht immer der Fall – es wurden so manche merkwürdigen Register gezogen, die nicht in jedem Fall intuitiv verstehbar waren. Wichtig ist dabei stets: Verstehen fördern wir nicht, indem wir einfache twitterkonforme Hauptsätze schmettern, sondern durchaus auch logisch kohärente Relativsätze.

Letztlich sehen wir öfter, als uns lieb sein kann, dass die Sehnsucht nach Einfachheit und Eindeutigkeit auch politisch gefährlich ist, denn sie entzieht sich der Mehrstimmigkeit. Im Lateinischen gibt es den Ausdruck »Ex falso quodlibet« – auf Falsches folgt Beliebiges. Wir erleben, dass Parteien bis hin zu Regierungen die Demokratie kalkuliert untergraben, während sie sich gleichsam auf sie berufen. So schlittern dann auch liberale Demokratien in illiberale oder gar autokratische Zustände. Dabei sollten wir uns immer wieder auch daran erinnern: Weder Geschichte noch Grundrechte sind mit Bleistift geschrieben. Sie sind nicht ausradierbar. Fakten stechen immer Konstruktionen. Zwischen beiden muss unterschieden werden können.

Worauf es ankommt: Mündigkeit fördern

Verstehen geht immer über Eindeutigkeit und Einfachheit hinaus. Insofern geht es darum, Wege zu ebnen, die Komplexität transparent und damit verstehbar zu machen. Erst dann kann sich ein verantwortliches Handeln und ein vernünftiges Streitgespräch entwickeln. Immer dann, wenn nicht verstanden wird, folgt hingegen der Affekt. Demokratie baut auf Verstehen und Verantwortung und folgt eben nicht einfach dem Affekt. Nur wenn verstanden wird, was die Beweggründe für individuelles wie politisches Handeln sind, kann rationales Vertrauen und waches Misstrauen entstehen. Eine funktionierende Demokratie braucht beides. Denn blindes Vertrauen führt zugespitzt zu Gleichgültigkeit und Entmündigung. Wer wiederum nur misstraut, verhärtet, weil er sich auf niemanden verlassen will und an allem zweifelt. Es kommt auf die Balance an. Und um diese zu finden und zu stärken, braucht es offene Orte gesellschaftlicher Verständigung. Orte, an denen das Prinzip der Schnelligkeit nicht die zwischenmenschliche Kommunikation bestimmt. Orte, an denen Verstehen möglich wird und wir uns im Umgang mit gegenseitigem oder gemeinsamem Nichtwissen schulen. Orte, an denen wir uns alternative Handlungsmöglichkeiten erschließen und gleichzeitig lernen, was die Grenzen des menschlich Möglichen sind. Und Orte, an denen wir auch lernen, wie viel zwischen Scheitern und Gewinnen liegt.  

Die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur

Solche Orte sind Kulturorte. Sie sind Orte der Öffentlichkeit und der Begegnung. Sie vermögen es, uns zum bewussten Nachdenken anzuregen und schärfen den Verstand – durch den Dialog, wie in öffentlichen Bibliotheken oder Stadtteilkulturzentren, durch die bildende Kunst und zeitgemäße Vermittlung, wie in Museen oder durch das Spiel, wie auf den Theaterbühnen oder zum Beispiel durch Kunst im öffentlichen Stadtraum. Ein Beispiel ist die 2019 errichtete »Grenzwippe«, ein transnationales Kunstprojekt an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, zwischen Sunland Park und Ciudad Juárez. Zwischen Stahlstäben wurden drei Wippen installiert, die symbolisch zeigen: Das Handeln auf der einen Seite hat Auswirkungen für die andere Seite. Ein eindrückliches Beispiel für die Erzählkraft und Wirkmacht der Kunst. Nur dann, wenn es Möglichkeiten gibt, sich miteinander verständigen zu können, wird Demokratie nicht mehr ungreifbar, sondern real erfahrbar. Und wir wissen – nicht erst seit der Corona-Pandemie: Keine Regierung kann Menschen den Imperativ Verstehe! aufpfropfen. Tut sie es doch, gesteht sie ihre eigene Hilflosigkeit ein. Die Kunst ist hier eine bessere Vermittlerin, gerade weil sie zweckfrei und dadurch sinnvoll ist.

Wofür eine demokratische Regierung Sorge tragen muss, ist, dass es Räume des Austauschs gibt.

Kulturpolitik als Demokratiepolitik  

Die Kunst ist Gradmesser der Freiheit einer Gesellschaft. In einer offenen Gesellschaft stärkt Kulturpolitik durch Förderung künstlerischer Produktion und kulturellen Erlebens diese Freiheit immanent. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Kulturpolitik keineswegs Einfluss auf das künstlerische Programm nehmen darf. Sie lässt vielmehr auch zu, dass sie selbst kritisch gemustert wird. Die Kunst ist das Kind in Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider«, das schreit: »Aber der Kaiser ist nackt!«. Das macht Kulturpolitik zu Demokratiepolitik. Und das macht sie gerade jetzt auch international so wichtig. Sie lässt zu, dass die Wahrheit ausgesprochen wird, selbst wenn sie unbequem ist; sie lässt Zweifel an Macht und Mächtigen zu. Sie darf dies, solange sie selbst nicht den demokratischen Konsens unterwandert.

Kulturpolitik – auf Bundes- Landes- und kommunaler Ebene – ist Finanzier. Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert hat es in einer Rede einmal auf den Punkt gebracht, als er sagte, in keinem anderen Bereich der Gesellschaft sei die Distanz zum Staat so groß und so demonstrativ und gleichwohl die Erwartung der Alimentierung so ausgeprägt wie im Bereich der Kunst und Kultur. Dies ist eine Ambivalenz, die wir als solche akzeptieren müssen. Eine andere Ambivalenz, die wir immer wieder diskutieren müssen, betrifft das Verhältnis der Kulturpolitik zu Gesellschaft und der Kunst. Denn beiden ist sie verpflichtet. Abstrakt bedeutet das, dass sie im bestmöglichen Sinne der Gesellschaft handelt und gleichzeitig im bestmöglichen Sinne der Kunst. Es geht also nicht um Extreme und damit nicht darum zu fördern, was mehrheitliche Zustimmung findet, aber auch nicht darum zu fördern, was keinen interessiert. Insbesondere bei staatlichen Institutionen wie Theatern oder Museen stellt sich uns in einer pluralen Gesellschaft die Frage, wie alle erreicht werden können, sodass es eben auch hier nicht um Grüppchen der Gleichen geht, sondern um die Zusammenkunft der Vielen. Genau dadurch können wir die Unwucht zwischen individuellem und kollektivem Wohl praktisch bewältigen. Dabei geht es um die kontinuierliche Öffnung bestehender Institutionen genauso wie um eine kreative Stadtplanung, die die Kunst aktiv mitdenkt. Beides wird gerade jetzt nach einer Zeit des Stillstands und der Schließungen enorm wichtig. Und auch das macht Kulturpolitik zu Demokratiepolitik.

Dr. Carsten Brosda

Dr. Carsten Brosda ist Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Er ist Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und Co-Vorsitzender der Medien- und Netzpolitischen Kommission des SPD-Parteivorstands. Dr. Carsten Brosda publiziert regelmäßig zu gesellschaftspolitischen Themen, seit 2019 sind drei Bücher von ihm erschienen: »Die Zerstörung« (2019), »Die Kunst der Demokratie« (2020) und »Ausnahme / Zustand« (2020). Er ist Mit-Herausgeber des Buchs »Kann das wirklich weg?« (2021).