Lade ...

Oh du fröhliche? Chöre und Demokratie

 
25. Dezember 2021
  • 11. KupoBuko

Weihnachtszeit ist Musik-Zeit: nicht nur kitschiger Weihnachts-Pop oder launiger Swing aus Kaufhaus-Lautsprechern, auch klassische Musik mit Chorgesang, Oratorien und vielstimmig gesungene Weihnachtslieder gehören für Viele dazu.

Aus einzelnen Stimmen ergibt sich im Chor ein – meist wohlklingendes – Gemeinsames. Von Vielstimmigkeit ist auch oft bezogen auf die diverse Gesellschaft die Rede. Die Vereinigung vieler verschiedener Stimmen zu einem harmonischen Ganzen könnte ein Sinnbild für ein gelingendes demokratisches gesellschaftliches Miteinander sein. Natürlich gehören auch Streit und Misstöne zu einer Demokratie dazu – beim Chorgesang hingegen ist dies nicht zwingend der Fall.

Dieser Beitrag geht der Frage nach, was Chöre und Demokratie miteinander zu tun haben. Können Chöre als Orte der Demokratieförderung wirken? Stehen demokratische Prozesse und künstlerischer Anspruch vielleicht sogar manchmal im Widerspruch zueinander?

Chorgesang als Demokratieförderung

„Pride (in the Name of Love)“ von U2, „Looking for Freedom“ von David Hasselhoff, Bob Dylans „Blowin‘ in the Wind“ oder Rio Reisers „König von Deutschland“ – die Songauswahl des Demokratiechors des Bayerischen Landesverbandes der Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist bunt gemischt. Das Aktionsbüro Demokratie organisiert den Chor im Rahmen des Projekts „AWO l(i)ebt Demokratie“: Einmal im Monat treffen sich Singwillige mit dem Chorleiter Dominik Schauer zu Online-Chorproben, in denen jeweils ein politischer Song einstudiert wird.

»Der Chor ist ein niedrigschwelliges Heranführen an das Thema Demokratie. Wir wollen die Teilnehmenden motivieren, sich für demokratische Werte einzusetzen.«
Platzhalter Portrait
Julia Gerecke, Projektleiterin AWO l(i)ebt Demokratie

Im Demokratiechor stehen der Austausch, das Miteinander und die Freude im Vordergrund, nicht unbedingt musikalische Höchstleistungen. Während der Proben wird auch über die Inhalte und Entstehungszusammenhänge der Songs gesprochen – und darüber, welche aktuellen gesellschaftspolitischen Themen die Teilnehmenden damit in Verbindung bringen. Einige Sänger*innen wurden dadurch angeregt auch an anderen Workshops des Demokratie-Projekts teilzunehmen, etwa zu den Themen Rassismus und Diversität.

Die Sänger*innen des Demokratiechors können selbst Lieder vorschlagen und es wird darüber abgestimmt – dabei kommen Umfragetools zum Einsatz. Es gibt einen festen Kern an Sänger*innen, die regelmäßig teilnehmen, andere sind einmalig oder hin und wieder dabei. Für viele sei der Chor zu einem Herzensprojekt geworden, die Verbindung der Menschen zueinander und die Stimmung seien sehr gut, erzählt Julia Gerecke. Das zeigt sich auch in dem aktuellen Weihnachts-Video des Chors. Für das Jahr 2022 sind – wenn die Pandemie-Lage es wieder zulässt – Hybrid-Proben und ein Chorwochenende in Präsenz geplant, vielleicht sogar Auftritte. Der Demokratiechor ist offen für alle, nicht nur für Menschen aus Bayern.

Auch viele andere Chöre sind gesellschaftspolitisch engagiert oder singen Lieder mit politischen Aussagen, dazu gehören zum Beispiel Chöre der Gewerkschaften, Parteien oder freie Gruppen und Vereine.

Entscheidungsprozesse und Repräsentationsfragen im Chor

Demokratie im Chor muss aber nicht unbedingt auf der inhaltlichen Ebene geschehen. Letztlich hat jedes Miteinander in einer Gruppe etwas mit Demokratie zu tun – vor allem, wenn es darum geht, Entscheidungen zu fällen, die alle betreffen. Im Chor muss zum Beispiel entschieden werden, wer den Chor leitet und wie er geleitet wird, es geht um die Auswahl der Musikstücke und deren künstlerische Interpretation und um organisatorische Fragen, etwa wann und wo geprobt wird und wo man auftreten möchte.

Diese Entscheidungsprozesse können mehr oder weniger demokratisch ablaufen, man kann direkte Formen und indirekte Formen von Demokratie praktizieren. Direkt – oder basisdemokratisch – würde bedeuten, dass alle Mitglieder abstimmen oder gemeinsam beschließen, dabei zählt jede Stimme gleich viel. Bei repräsentativen Formen werden Vertreter*innen gewählt, die dann für die Gruppe entscheiden – so wie es in unserem parlamentarischen System die Abgeordneten tun. So kann es im Chor Sprecher*innen der einzelnen Stimmen oder verschiedener Gruppen geben, auch die Wahl des Chorleiters könnte demokratisch erfolgen. Die Organisationsform oder der Träger des Chors spielen hier natürlich mit hinein.

Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg spricht in einer Podcast-Folge von Vocals on Air des Schwäbischen Chorverbandes (www.vocalsonair.de) das Problem der Repräsentation in der parlamentarischen Demokratie – und im Chor – an. Viele Menschen fühlten sich von den gewählten politischen Vertreter*innen nicht repräsentiert, dies habe in den letzten Jahren auch den Aufstieg der Populisten befördert. „Und das ist natürlich auch ein Problem, wenn ich es auf die Chorebene runterbreche: Wer wird Dirigent oder Chorleiter*in – sind diese Menschen repräsentativ für die Chormitglieder, die ja auch sehr unterschiedlich sein können?“, so Wehner.

Auch im Chor stellen sich also Fragen der Repräsentation, der Mitbestimmung und der Teilhabe. Wie so oft in unserer pluralen Gesellschaft gibt es dazu sehr verschiedene Meinungen und Haltungen, und viele Beispiele, wie es funktionieren kann.

Mitbestimmung und Basisdemokratie

„Die Leute entscheiden jede Woche mit ihren Füßen, zu mir in die Probe zu kommen“, sagt Martin Winter, Leiter des erfolgreichen A-Cappella-Pop-Chors „Choriosity“ in Ulm im Podcast. Er ist ihm jedoch ein Anliegen, die Sänger*innen darüber hinaus umfassend in Entscheidungen einzubeziehen. Bei Choriosity gibt es Orga-Teams und ein gewähltes Leitungsgremium, das viele organisatorische Entscheidungen gemeinsam trifft.

»Die Entscheidung, welche Lieder wir singen etc. bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Selbstentscheidung und der Übertragung der Verantwortung an jemanden, der im eigenen Sinne entscheidet.«
Platzhalter Portrait
Martin „Monty“ Winter, Chorleiter Choriosity

Winter versucht, hier einen guten Mittelweg zu finden. Jedes Chormitglied kann bei Choriosity Lieder vorschlagen, über die dann abgestimmt wird. Nur bei ethisch-moralisch bedenklichen Songs würde er als Chorleiter sich vorbehalten abzulehnen. Aus seiner Sicht lohnt es sich in vielerlei Hinsicht, die Sänger*innen stark in Organisation und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sie fänden so Räume und Möglichkeiten sich weiterzuentwickeln und übernähmen Verantwortung, das wirke nachhaltig, auch in weitere Lebensbereiche hinein: „Ich glaube daran, dass wenn man einmal dieses Licht entzündet, dieses Licht auch weitergegeben wird“, so Winter. Er ist davon überzeugt, dass der Chor auch längerfristig ohne ihn weiter funktionieren könnte. Durch die demokratischen Strukturen hinge eben nicht alles an einer Person, die Leute seien sehr stark intrinsisch motiviert.

Diese hohe Motivation der Chormitglieder führte unter anderem dazu, dass sie 2017 einen Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall realisieren konnten. Dazu starteten sie eine Crowdfunding-Kampagne und leisteten viel Überzeugungsarbeit bei ihrem Trägerverein, dem CVJM.

Ein anderer Chor, in dem demokratische Mitbestimmung eine wichtige Rolle spielt, ist Cocktail Vocale in Sindelfingen, der als eigenständiger Verein organisiert ist. Die Chormitglieder wählen alle Stücke selbst aus und übernehmen sämtliche organisatorischen Aufgaben.

„Wichtig ist, dass jedes Mitglied sich verantwortlich für die Gruppe fühlt, für die gemeinsame Sache. Ohne diese Identifikation bleibt es beim Konsum“, Jörg Rakoczy, 1. Vorsitzender von Cocktail Vocale in Sindelfingen

Der Vereinsvorsitzende Jörg Racoczy findet es wichtig, dabei den gemeinsamen Spaß und gemeinsame Erfolge in den Vordergrund zu stellen. So könne man Menschen motivieren, Verantwortung zu übernehmen und sich ehrenamtlich zu engagieren – auch über den Chor hinaus.

Der andere Weg: Chorleitung hat das Sagen

Bei vielen Chören läuft es allerdings anders. Dort ist klar, dass die Chorleitung die maßgeblichen Entscheidungen trifft – man könnte sagen, sie sind hierarchischer organisiert. Aber ist das unbedingt schlechter? „Nur weil man einen Chor nicht extrem basisdemokratisch führt, heißt das nicht, dass man die Interessen der anderen komplett ignoriert“, sagt Martin Renner, Chorleiter von „Voctails“ und „Die Beauties and the Beats“ aus Neckarsulm in einer weiteren Podcast-Folge von Vocals on Air. Er möchte letztendlich als Chorleiter entscheiden können, in welche Richtung es geht. Und er hat keine Lust, jede Kleinigkeit auszudiskutieren – dazu ist ihm die Zeit zu kostbar – die eigene, aber auch die der Sänger*innen, die sich sehr genau überlegten, wie sie ihre Freizeit verbringen wollten. Renner hat den Eindruck, dass in Deutschland manchmal die Devise gelte: ‚Wenn etwas nicht demokratisch ist, kann es nicht gut sein‘. Dem widerspricht er – und seine erfolgreichen Chorprojekte geben ihm Recht.

Vielleicht hängt die Frage, wie demokratisch ein Chor organisiert sein kann oder sollte, auch vom künstlerischen Anspruch und von der Motivation der Teilnehmenden und der Chorleitung ab. „Geht es hauptsächlich um das gesellschaftliche Zusammenkommen? Da ist natürlich eine demokratische Struktur absolut sinnvoll und angebracht. Aber in dem Moment, in dem ich sage, ich möchte künstlerisch vorankommen, sehe ich da starke Grenzen. Da kann das einfach ganz demokratisch nicht ablaufen“, meint Martin Renner. Vermutlich würde Martin Winter von Choriosity ihm hier widersprechen – wie es sich in einer Demokratie mit gelebter Meinungsvielfalt gehört. In diesem Sinne wünscht die Blogredaktion Ihnen möglichst harmonische Weihnachten mit viel Musik!

Weitere Informationen

Vocals on Air, Podcast des Schwäbischen Chorverbands:
Staffel 3, Episode 1 „Demokratie

Staffel 3, Episode 3 „Gelebte Demokratie in meinem Chor?“

AWO-Demokratiechor im Rahmen von „AWO l(i)ebt Demokratie!“