Lade ...

Wer uns Abkürzungen verspricht, lügt. Die Kunst der Demokratie und politische Bildung

 
21. Juni 2022
  • 11. KupoBuko

»Drunter ging es wohl nicht?!« So oder ähnlich mögen einige von Ihnen gestutzt haben angesichts des Themas, dem sich der 11. Kulturpolitische Bundeskongress in diesem Jahr widmet: nichts Geringerem nämlich als dem Zustand und der Zukunft von Demokratie. Ein enormer Horizont, das lässt sich schwerlich anders sagen. Und dennoch liegt das Thema nicht nur vor dem Hintergrund der vielen Anwürfe, denen sich Demokratie gegenüber sieht, auf der Hand. Es ergibt sich auch stringent aus dem, wonach der 10. Kongress 2019 fragte: der Möglichkeit von »Heimat« als kulturpolitischer Kategorie. Die Frage nach Widerstandskraft und Zukunftsfähigkeit von Demokratie schließt an diesen Versuch einer »Neuerfindung von Gemeinschaft« an, für den die Soziologin Sabine Hark »Verantwortlichkeit« vorschlägt als neues Wort für Gemeinschaftlichkeit und Sorge (care) im Rahmen ihres Entwurfs eines politischen »Ethos der Kohabitation«.[1] Mit der Figur der »Ungewählten« erinnert sie darin an all die uneingelösten Versprechen der demokratischen Moderne und eröffnet so den »Raum der Demokratie in die Zukunft«[2].

Demokratie als Herausforderung

Ein wenig erwartbarer mag demgegenüber der Zuschnitt gewesen sein, der im Untertitel des Kongressthemas erkennbar wird – und der zugleich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung formuliert: Kulturpolitik als Demokratiepolitik. Herausgefordert sind indes derzeit sehr viele Menschen, auf unterschiedlichen Feldern und in je individuell verschiedener Tragweite: in privater und beruflicher Hinsicht im dritten Jahr der Pandemie, in mentaler und emotionaler Hinsicht angesichts katastrophaler Klimaereignisse sowie der Wiederkehr des Kriegs nach Europa. Unsere Utopiefähigkeit, das menschliche Vertrauen und die Hoffnung darin, dass eine gute Zukunft eine Chance zur Realisierung hat, ist enorm herausgefordert. Und die spätmoderne Orientierungslosigkeit erstreckt sich dabei nicht nur auf das Individuum. Unsere Gemeinschaften ebenso wie die Gesellschaft als Ganzes, die kulturellen Grundlagen unseres Zusammenlebens und das politische System – kurz »die« Demokratie in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen – bleiben nicht von den genannten Phänomenen verschont. Sie fordern Prozesse, Strukturen und Institutionen heraus, deren Verfassung auch vor Pandemie und Angriffskrieg bereits zumeist mit einem Begriff belegt war: kritisch. Ob mit Blick auf bestimmte Funktionen (Repräsentation/ Legitimation) oder hinsichtlich konkreter Aufgabenbereiche (Migration, Klima, Biodiversität), die Widerstandskraft und Zukunftsfähigkeit liberaler Demokratien schien den Anforderungen nicht gewachsen, ihre Mechanismen zur Herstellung allgemeinverbindlicher Regelungen und damit zur friedlichen Aushandlung widerstreitender Interessen in kritischem Zustand. Diese herausgeforderte Demokratie gilt es in den Blick zu nehmen – und zwar unter besonderer Berücksichtigung kulturpolitischer Perspektiven. Diese zentrale Rolle und Relevanz kommen Kultur und Kulturpolitik deshalb zu, weil ohne sie diese Krisen weder zu verstehen noch zu lösen sind.

Die Kontroversen im Zuge der Diskussion über den Umgang mit kolonialen Kulturgütern, Antisemitismusvorwürfe gegen Kulturschaffende und sich darin anschließende Debatten um Ausschluss und vermeintliche Zensur zeigen, dass Theater, Museen, Bibliotheken und andere Kulturhäuser längst Austragungsort politischer Konflikte sind. Sie sind dabei aber zugleich auch selbst Beteiligte, ergreifen aktiv Positionen innerhalb der Debatten, finden sich zunehmend in der Rolle eines gesellschaftspolitischen Akteurs wieder und stehen nicht selten vor einer Reihe von Zielkonflikten angesichts knapper Ressourcen sowie vielfältiger Ansprüche von Innen und Außen. Denn die »Kunst der Demokratie« ist auch eine Forderung an Kulturakteure, sich zu demokratisieren. Diversifizierung, Dezentrierung, Re-Positionierung, dies sind nur einige der Querschnittsaufgaben, die auf der Agenda stehen. Als weitere zu nennen sind Inklusion und Nachhaltigkeit. Die Herausforderung liegt demnach in dieser vielfachen Verflechtung, der Kulturinstitutionen bei den genannten Krisen unterliegen. Dabei ist ihre Rolle für Demokratie und für politische Bildung klar: Systemtheoretisch betrachtet, schafft Kunst Beobachtungen zweiter Ordnung und leistet damit etwas, was Gesellschaft und Politik nicht können, nämlich die Schaffung einer spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsebene für die Beurteilung der Krise der Gesellschaft, einer Deutungsebene also, die politischen Entscheidungen zugrunde gelegt werden kann. Gerade in einer Zeit, in der nicht klar ist, was das faktisch Richtige ist und wo Wirklichkeit in hohem Maße deutungsoffen und ambivalent ist, kann Kunst die Frage nach den gesellschaftlich relevanten Fragestellungen oder Leerstellen in den Vordergrund rücken.

Mit der Frage nach dem »Ende der Freiheit?« eröffnet sich das Spannungsverhältnis zwischen Krisenphänomenen, den Versuchen ihrer politischen Steuerung und der Sicherung von Grundrechten. Die Infragestellung liberaler Freiheitskonzepte – als Konstruktion westlicher Idealvorstellungen, als »kulturimperialistischer« Akt der Unterwerfung Marginalisierter, als exkludierende Freiheit, bürgerliche Heuchelei, die strukturelle Ausgrenzung vertusche und beschönige – ist hierbei ein zentraler Themenkomplex. Freie Kunst ist durch ihre inhärente Mehrdeutigkeit in sich eine Bedrohung für nicht-demokratische, autoritäre Kräfte, die entlang von Vereindeutigungsstrategien agieren. Das ist aktuell wieder zu beobachten. Freiheit, Gleichheit und Solidarität stehen dabei in Demokratien normativ in einem konstitutiven Zusammenhang: Ein Leben in Freiheit kann nur führen, wer tatsächlich »selbstbestimmt als Gleiche unter Gleichen mit anderen ein soziales Band knüpfen kann«, weshalb die »Zerstörung oder gewaltförmige Aneignung der kulturellen Ressourcen und Praktiken anderer Gemeinschaften – Sprache, bildende Kunst, Literatur, Kulturgegenstände, kulturelle Gebräuche und Rituale […] – zum Repertoire der kolonialen und imperialen Herrschaftspraktiken gehören.«[3] Autoritäre Regime zeichnen sich dadurch aus, dass »von oben ein einzelnes Narrativ aufgezwungen [wird], das alle anderen Interpretationen oder Versionen der Geschichte unterdrückt.«, so die Autorin Elif Shafak. Insbesondere indem Kultur unter Bedingungen der Freiheit in der Lage ist, Vielfalt herzustellen, kann mit ihr ein zuweilen diffus anmutendes, demokratisches Gespräch initiiert werden, das einer autokratischen Apodiktik entgegensteht, die nicht bestrebt ist, Mehrdeutigkeit und Multiperspektivität argumentativ in Aushandlung zu bringen, sondern zum Schweigen.

Die Aufgaben politischer Bildung

Mit der Frage aber, wie diese Aushandlung funktionieren kann, welche Methoden und formalen Leitplanken hierfür in demokratischen Zusammenhängen relevant sind, ist die Expertise und Erfahrung politischer Bildung aufgerufen. Wann immer aktuell über die Freiheit der Kunst, die Rolle von Kulturinstitutionen und die Aufgaben von Kulturpolitik gestritten wird, sind die anlassgebenden Kunstwerke – Gedichte an Häuserwänden, Statuen in Parks, Programmtexte in Satiresendungen – gekennzeichnet von einem gemeinsamen Merkmal: Sie sind voraussetzungsreich, vieldeutig, irritierend, komplex. Wir haben es mit ambigen Situationen zu tun, denen teilweise mit Vereindeutigungsstrategien begegnet werden soll: Kolumbus soll als Symbolfigur des Kolonialismus raus aus dem öffentlichen Raum. Politisch ist dies mehr als verständlich, aus der Sicht politischer Bildung aber ist Komplexität nicht nur mit Blick auf den Wert einer pluralen Gesellschaft ein erhaltenswürdiger Zustand. Es sind zudem gerade unaufgelöste, ambige Situationen, die in ihrer Kontroversität das Potenzial haben, bildsam zu sein. Die Aufbereitung und Rahmung dieser Kontroversität gehört zentral zur Aufgabe politischer Bildung. Sie konfrontiert mit Komplexität im Rahmen einer angeleiteten Lernsituation, die darauf ausgerichtet ist, den lernenden Subjekten Gelegenheit zur Ausbildung kritischer Urteilsfähigkeit zu bieten, mit der die ungefilterte Komplexität der Welt handhabbar wird – und zugleich einen selbstwirksamen Umgang damit zu erlernen, dass sich Kritik und Widerspruch auch gegen die eigenen politischen Positionen und Überzeugungen richten können. So stehen Konfliktaustragung und sozialer Zusammenhalt in enger Beziehung mit der Fähigkeit, Alterität und Ambiguität auszuhalten und auch Phänomene des vor dem eigenen Hintergrund nicht Verstehbaren zu akzeptieren. Es gibt keine einfachen Antworten in einer pluralen Demokratie. Oder wie Elif Shafak formuliert: »Wer uns Abkürzungen oder einfache Lösungen verspricht, lügt.«[4] Aufgabe von Kulturpolitik in Demokratien ist es dementsprechend, die Vielfalt von Stimmen, aber auch das Marginalisierte zum dominanten Narrativ sicht-, hör-, wahrnehmbar zu machen. Vor diesem Hintergrund ist Kulturpolitik Gesellschaftspolitik, wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth vielfach betont,[5] Politik im Sinne demokratischer Werte.

Gerade vor dem Hintergrund der Kulturstrategien neu-rechter und rechtspopulistischer Akteure sehen sich Bildungsakteure im Kulturfeld inzwischen seit einigen Jahren dazu aufgerufen, politische Bildung in ihre Bildungsarbeit zu integrieren – teilweise in der Annahme, politische Bildung sei politisierte Bildung oder bestehe vornehmlich in der Einübung von Partizipation oder der Ausbildung demokratischer Haltung; teilweise aber auch in der berechtigten Annahme, dass man sich auf der Grundlage politischer Bildung effektiver gegenüber antiliberalen Vorstößen behaupten kann. Zugleich ist politische Bildung selbst aufgefordert, sich von starren Kategorisierungen zu lösen, sich zu dynamisieren und pluralisieren, um den beschriebenen Herausforderungen adäquat begegnen zu können. Sie ist angewiesen auf die Entwicklung neuer Methoden, beispielsweise über Zugänge der Alltagskunst, des Non-Verbalen, Materiellen, auch Emotionalen. Das Verhältnis von politischer und kultureller Bildung ist dabei notwendig ein entgrenztes und zugleich interdisziplinär verschränktes. Dies ergibt sich aus der Beobachtung, dass aus unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen heraus – mit Blick auf Theorie, Gegenstand, Methodik, Akteure und Strukturen – eine Grenzziehung zwischen politischer und kultureller Bildung nicht adäquat scheint. Die interdisziplinäre Verschränkung – Hybridisierung – politischer, kultureller und ästhetischer Bildung ist zur Förderung und Ausbildung gegenwartsrelevanter ‚literacies‘ in der kulturalisierten Welt notwendig, um einen mündigen, kritischen und selbstbestimmten Umgang zu finden mit Phänomenen der Fiktionalisierung und Emotionalisierung, mit narrativen Strategien und ästhetischen Codierungen. Ziel muss es sein, eine interdisziplinäre Praxis vor dem Hintergrund aller bestehenden Eigenheiten, Eigenlogiken und Eigenwerte weiter zu entwickeln.

»Die Normalisierung des Außerordentlichen«

»Was ist jetzt noch unvorstellbar?«, fragte die ZEIT auf einer ansonsten leeren Seite am 02. März dieses Jahrs, nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Ich denke: so einiges. Die Komplexität der Spätmoderne bringt eine radikale Offenheit mit sich und wird auch künftig Schocks bereithalten, die wir nicht antizipiert haben, antizipieren konnten oder wollten. Es wird immer wieder Situationen geben, die wir so noch nicht kannten, auf die wir nicht vorbereitet waren und die wir bewältigen müssen: die »Normalisierung des Außerordentlichen«, nennt das Andreas Reckwitz.[6] Dem Volkswirtschaftler Markus Brunnermeier zufolge gilt es, gesellschaftliche Institutionen so zu gestalten, dass wir nach unvermeidbaren Schocks wieder zurückfedern: Resilienz statt Robustheit.[7]

Eine resiliente Gesellschaft ist dehnbar, beweglich, mit der Fähigkeit ausgestattet zu schwingen, ohne deshalb gleich aus den Angeln zu springen. Wie genau sie auszugestalten ist, bleibt derweil undeutlich. Wie überhaupt klare Kontouren bisher nur vage zu erkennen sind. Auf den Punkt bringt dies der Politikwissenschaftler Philip Manow, wenn er schreibt: »Unsere Zeiten sind vielleicht nur darin neu, dass in ihnen immer etwas zu Ende geht, aber nichts Neues an seine Stelle tritt: das Zeitalter der großen Erzählungen oder das der Ideologien, die Geschichte, die Moderne, der Liberalismus, die Wahrheit usw. Nun anscheinend auch die Demokratie.«[8] Es zeichnet sich jedenfalls ab, dass viele politische Positionen, die heute Zulauf bekommen, nur Symptom der Krise, nicht aber Träger von Zukunftsideen sind.[9] Aus Sicht der politischen Bildung bedeutet Kunst der Demokratie, mit dieser radikalen Offenheit als Gesellschaft umgehen zu lernen. Dafür braucht es neue Kooperationen, Kollaborationen, Allianzen. Gerade hinsichtlich der Gestaltung solcher Transformationsprozesse kommt Kultur eine zentrale Rolle zu, weil sie aus einer spezifischen Perspektive heraus utopische Entwürfe wagt.

Entscheidend wird sein, nicht bei Zustandsbeschreibung und Krisendiagnose stehen zu bleiben. Die Skepsis jedoch, die aus der hiervon abgeleiteten Betonung von Resilienz klar herauszulesen ist – die herausgeforderte Fortschrittshoffnung –, kann für politische Bildung immer nur eine Seite der Medaille sein. Neben Urteils- und Kritikfähigkeit geht es ihr auch um Handlungs- und Utopiefähigkeit, um die Befähigung zur Teilhabe und Mitgestaltung der demokratischen Gemeinschaft entlang der eigenen Interessenlagen und Werthaltungen. Den formalen Rahmen hierfür bildet eine resiliente Gesellschaft, deren Konstruktion zugleich Aufgabe und Ziel politischer Bildung ist. Damit ist der spätmodernen Orientierungslosigkeit jedoch noch kein materieller Zukunftsentwurf gegenübergestellt. Dieser kann, so Sabine Hark, nur aus einer Haltung erwachsen, die sich in einem Denken ‚mit‘ der Welt äußert statt ‚über‘ sie – gerade im Anthropozän. Ein »horizontales Denken, auf Augenhöhe mit den je anderen«. Ihr zufolge ist dies nur als machtsensible, demokratische Lebensweise möglich, die auf Praxen der Sorge gründet im Sinne einer ‚caring democracy‘.[10] Zentrale Aufgabe auf dem Weg der Entfaltung und Gestaltung einer solchen Demokratie der Sorge ist es, Dominanz zu verlernen: »Dezentrierung und Demontage von imperialer Dominanzkultur«[11]. Hierzu sind Kultur-, Politik- und Bildungsbereich gleichermaßen aufgerufen.

[1] Sabine Hark: Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation, Berlin 2021, 197.

[2] Hark, 148.

[3] Hark, 186.

[4] www.youtube.com/watch?v=KMCMSe8ID38&ab_channel=SRFKultur.

[5] Vgl. www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/aktuelles/interviews/-ich-gehe-nicht-defensiv-an-meine-aufgabe-heran–2003468.

[6] Vgl. https://coronasoziologie.blog.wzb.eu/podcast/andreas-reckwitz-risikopolitik/.

[7] Markus Brunnermeier: Die resiliente Gesellschaft: Wie wir künftige Krisen besser meistern können, Berlin 2021. Solche dynamischen Institutionen einer resilienten Gesellschaft müssen nicht nur zunächst etabliert werden. Es braucht auch gesamtgesellschaftliches Vertrauen in sie.

[8] Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Berlin 2020, 7.

[9] Vgl. Andreas Reckwitz, »Die Krise des Liberalismus und die Suche nach dem neuen politischen Paradigma: Vom apertistischen um einbettenden Liberalismus«, in: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2021, 239-304.

[10] Hark, 19.

[11] Hark, 179, Herv. i.O.

Thomas Krüger

Thomas Krüger *1959, ist seit Juli 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, anschließend von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags. Bereits seit 1995 ist er Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten.